Gibt es noch einen guten Grund, in Italien zu leben? Die italienischen Filmemacher Gustav Hofer und Luca Ragazzi zeigen mit ihrer preisgekrönten Dokumentation ein Italien in der Krise und reisen auf der Suche nach einer Antwort das Stiefelland rauf und runter. Absolut sehenswert!
Für den Touristen ist Italien: Einfach schön. Projektionsfläche für Sehnsüchte, Träume und Familie. Von Mafia, Korruption und davon, dass Kinder im Süden ihr eigenes Toilettenpapier in die Schule mitbringen müssen, hat man vielleicht schon gehört, aber wer einen Teller Tagliatelle und ein gutes Glas Wein aus den Castelli Romani vor sich stehen hat, vergisst doch schnell die unschönen Seiten dieses Landes.
Die beiden Filmemacher Luca Ragazzi und Gustav Hofer sind auch die Hauptdarsteller in der mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Dokumentation „Italy – love it or leave it“. Als ihnen die Wohnung in Rom gekündigt wird, fragt sich Gustav, ob dies nicht der richtige Zeitpunkt wäre, Rom und Italien überhaupt, zu verlassen. Nach Berlin gehen etwa. Viele ihrer Freunde sind schon in London, Paris, Neuseeland, um zu arbeiten und dort vielleicht auch ein besseres Leben zu haben.
Warum sollte man noch in Italien leben? Gibt es Gründe, um diesem heruntergewirtschafteten, von Korruption gebeutelten Land, nicht den Rücken zu kehren? Luca findet ja. Er möchte bleiben. Weil der Kaffee gut ist und jedes Abendessen mit Freunden ein Fest. Aber ob das reicht? Die beiden beschließen, sechs Monate durch das Land zu fahren und herauszufinden: Bleiben oder gehen.
Und so fahren sie mit dem Fiat 500 durch Italiens schöne, aber auch durch Bauruinen zerstörte, Landschaft und treffen Menschen, von denen sie wissen wollen, ob Italien noch lebenswert ist.
Sie besuchen eine Orangen-Plantage im Süden des Landes, wo afrikanische Erntehelfer für wenig Geld arbeiten und in Häusern ohne Strom und Wasser leben. Sie sprechen mit einer jungen Frau, die bei Fiat am Fließband Akkordarbeit leistet und dennoch nicht genug Geld verdient, um sich und ihren Sohn durchzubringen. Ohne das zusätzliche Geld von ihren Eltern, sagt sie, könne sie nicht überleben. Am meisten Angst habe sie aber davor, dass die Produktion ganz eingestellt werde.
Nicht ohne Grund: Immer mehr Firmen verlegen ihre Produktion ins Ausland. Auch Bialetti, erfährt der Zuschauer, produziert das Mokkakännchen für den Herd nicht mehr in Italien. Produziert wird nun profitbringender in Rumänien. Vor dem verlassenen Bialetti-Werk im norditalienischen Omegna protestieren die ehemaligen Arbeiter. Sie wissen nicht, wovon sie leben sollen.
Italien gibt kein gutes Bild ab in diesem Film. Und doch retten die Filmemacher Italien und den Zuschauer immer wieder durch eine gute Portion Humor. Zum Beispiel, wenn die beiden zu George Clooney am Comer See fahren, um ihn mit einer Bialetti zu überraschen.
Warum bleiben, fragt man sich selbst irgendwann. Wegen der Sonne? Des Meeres? In Kalabrien werde Giftmüll einfach unter der Erde verbuddelt. Dass das darüber grasende Vieh und das Trinkwasser verseucht werden könnten und am Ende der Mensch selbst – die Verantwortlichen interessiert das nicht. Verantwortlich ist sowieso selten jemand. Die meisten mogeln sich irgendwie durch und wenn es nicht läuft, dann war eben ein anderer zuständig.
Aber das Paar trifft auch auf Menschen, die berühren. Die sich gegen Ungerechtigkeit wehren – mit für sie oft dramatischen Folgen. Ein Unternehmer, der kein Schutzgeld bezahlen will, hat alles verloren und kann nur noch mit Polizeischutz leben. Die kalabresische Bürgermeisterin, die sich gegen die Korruption stellt und öffentliche Ausschreibungen transparent macht. Sie lässt sich nicht abhalten von ihrem brennenden Auto und Pistolenkugeln, die zur Drohung verschickt werden. Oder der Mann, der die Erntehelfer mit Wasser, Matratzen und Kleidung versorgt und auch mal deren Wunden verarztet: Das sind die Menschen, die das Land verändern können.
Schriftsteller Andrea Camillieri rät zum Bleiben. Wer gehe, mache den Platz für die frei, die man nicht wolle. Wer gehe, verpasse die Chance etwas zu ändern. Manchmal sei es hart, es sei, wie auf einen Berg zu steigen. Aber erst wenn man auf dem Berg stehe, sehe man das wahre Italien.
Ein Mönch gibt ihnen ein Zitat mit auf den Weg: Man höre den Baum im Wald stürzen, man höre aber nicht wenn ein Wald wachse.
Vieles, so stellen die beiden auf ihrer Reise fest, habe sich in Italien verändert. Selbst am Teutonengrill in Rimini seien kaum mehr Deutsche anzutreffen, heute grillen sich hier die Russen.
Auch wenn Luca und Gustav während des „Rubygate“-Prozess gegen Berlusconi in Mailand auf skurrile Gestalten treffen, die nicht nur eine Hymne auf ihren presidente singen sondern diesen noch aggressiv verteidigen, zeigen andere Bilder Tausende von Frauen, die geschlossen in ganz Italien gegen das Frauenbild genau dieses Präsidenten demonstrieren. „Rücktritt“ skandieren sie.
Überhaupt wehren sich Frauen zunehmend. Gegen sexistische Werbung, gegen die Rolle, die ihnen von klein auf zugewiesen wird, das angestrengte Schönsein für Männer, gegen die Fleischbeschau im italienischen Fernsehen. Und Männer bekennen sich öffentlich zum Schwulsein – wie etwa der Präsident von Apulien, Nichi Vendola.
Ob sich Gustav und Luca für Rom oder für Berlin entscheiden, wird hier nicht verraten. Soviel aber: Ich finde, sie haben die richtige Entscheidung getroffen.
Zum Film
Italy – love it or leave it läuft aktuell in deutschen Kinos und ist seit November 2012 auf DVD in Deutschland zu bekommen.
Trailer
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Fotos: Presskit Italy - love it or leave it
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